Ausgewählter Beitrag

Der Zeitdieb

Nach der ersten Schriftrolle des ewig überraschten Wen trat Wen aus der höhle, in der er Erleuchtung erfuhr, in die Morgendämmerung des ersten Tages vom Rest seines Lebens. Eine Zeit lang beobachtete er die aufgehende Sonne, denn er hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Mit der Sandale stieß er seinen dösenden Schüler Tollpatsch an und sagte: »Ich habe gesehen. Jetzt verstehe ich.«

Dann zögerte er und betrachtete das Etwas neben Tollpatsch.

»
Was ist das für ein erstaunliches Ding?« fragte er.

Ȁ
h... äh... es ist ein Baum, Meister,« erwiderte Tollpatsch, der noch nicht richtig wach war.«Erinnerst du dich? Er war gestern auch hier.«

»
Es gab kein Gestern.«

Ȁ
h... äh... ich glaube doch, Meister,« sagte Tollpatsch und stand mühsam auf. »Weißt du noch? Wir kamen hierher, und ich habe eine Mahlzeit zubereitet, und ich habe die Rinde von deinem Sklang gelöst, weil du sie nicht wolltest.«

»
Ich erinnere mich an gestern,« murmelte Wen nachdenklich. »Aber die Erinnerung steckt jetzt in meinem Kopf. Existierte das Gestern wirklich? Oder ist nur die Erinnerung daran real? Wahrlich, ich wurde nicht gestern geboren.«

Tollpatschs Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse, die schmerzliches Unverständnis zum Ausdruck brachte.

»
Lieber dummer Tollpatsch, ich habe alles gelernt,« sagte Wen. »In der hohlen Hand gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft. Es existiert nur das Jetzt. Es gibt keine andere Zeit als die Gegenwart. Wir haben viel zu tun.«

Tollpatsch zögerte. Sein Meister hatte etwas Seltsames an sich. In seinen Augen glühte es, und wenn er sich bewegte, leuchtete die Luft um ihn herum silbrig-blau, als reflektierten flüssige Spiegel .

»
Sie hat mir alles gesagt,« fuhr Wen fort. »Ich weiß, dass die Zeit für die Menschen geschaffen wurde, nicht umgekehrt. Ich habe gelernt, sie zu formen und zu biegen. Ich weiß, wie man einen Moment ewig währen lassen kann, denn das ist bereits geschehen. Und ich kann diese Fähigkeiten selbst dir beibringen, Tollpatsch. Ich habe den Herzschlag des Universums gehört. Ich kenne die Antwort auf viele Fragen. Frag mich etwas.«

Der Schüler sah ihn verschlafen an. Es war zu früh am Morgen, um früh am Morgen zu sein. Nur das wusste er mit absoluter Gewissheit.

Ȁ
h... was möchte der Meister zum Frühstück?«, fragte er.

Wen blickte von seinem Lager über die Schneefelder und purpurnen Berge im goldenen Tageslicht, das die Welt formte, und dachte über gewisse Aspekte des menschlichen Wesens nach.

»
Ah,« sagte er. »Eine der schweren Fragen.«

So beginnt der Roman »Der Zeitdieb« von Terry Pratchett. Ein Buch, dass ich wie vieles von diesem Autor nur weiterempfehlen kann an Menschen, die Fantasy, Philosophie und Ironie lieben und das alles am liebsten in einer unterhaltsamen, amüsanten und scharfsinnigen Mischung lesen wollen. Dies ist nur ein kleiner Vorgeschmack, aber ich finde, darin kommen der Schreibstil des Autors und die Grundidee des Buches ziemlich gut zum Ausdruck. Vielleicht habe ich Euch ja damit ein wenig neugierig machen können. Wer aber schon etwas von ihm gelesen hat (da gibt es ja auch einige hier), der wird mir bestimmt zustimmen können, dass Pratchett süchtig machen kann. ;)

Karin 22.08.2006, 00.22

Kommentare hinzufügen

Die Kommentare werden redaktionell verwaltet und erscheinen erst nach Freischalten durch den Bloginhaber.



Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Gerhard aus Bayern

Du hast mit neulich schon neugierig gemacht. Ich habe mir bereits etwas bei amazon bestellt und gestern im Wertstoffhof die rollenden Steine mit genommen. Lag da wirklich so rum. :jaaa:

vom 22.08.2006, 06.29
Antwort von Karin:

Ich freue mich. Bei Pratchett lohnt es sich ja auch. Übrigens: Vielen Dank für Deine gestrige  Grußkarte - Ich mag Katzen bzw. Kätzchen, und das Bild ist richtig zum Schmunzeln. ;)
2024
<<< März >>>
Mo Di Mi Do Fr Sa So
    010203
04050607080910
11121314151617
18192021222324
25262728293031

Für Fairness!
Gegen Intoleranz!






Ich fotografiere mit:



Sony Alpha 57
(seit 2012)



Fotoaktionen



Teilnehmerliste


Meine Empfehlung
für Online-Autoren:


PageWizz
Letzte Kommentare:
Martina:
Das Stress vermeiden ist denke ich ein ganz w
...mehr
Martina:
Da bin ich dabei, eigentlich hab ich mit Yoga
...mehr
HsH:
Ich bin froh, dass mein Baum die Klappe hält
...mehr
Ingrid:
:Häh?: ... Ich dachte es heißt Adventkalend
...mehr
Anne:
Hallo Karin!Ich bin eisern, ich gebe nicht au
...mehr
Seit dem 03. Januar 2012:


Beruflich biete ich:

Texte, Lektorat und Ãœbersetzungen

Nebenschauplätze:

Frau und Technik

NEW: Utopia - International Version

NOUVEAU: Utopie francophone

Lebensharmonie

Mein Jakobsweg - Reiseblog 

Notizen und Gedanken



Glück ist ein Duft,
den niemand verströmen kann,
ohne selbst eine Brise abzubekommen.
Ralph Waldo Emerson (1803-1883)







Ein Träumer ist jemand,
der seinen Weg im Mondlicht findet,
und die Morgendämmerung
vor dem Rest der Welt sieht.

Oscar Wilde (1854-1900)


Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag,
an dem Du die 100%ige Verantwortung
für Dein Tun übernimmst.

Dante Alighieri (1265-1321)


Mein Wunschzettel
[klick]






Blogger United


Interne Welten
RSS 2.0 RDF 1.0 Atom 0.3