Ausgewählter Beitrag
Sonntagsbeitrag
Du blickst in die Ferne. Die Schienen führen zielstrebig über den Horizont. Wie die Sprossen einer Himmelsleiter liegen die Querbretter da. Wohin der Weg wohl führen mag? In leichten Kurven windet sich die Strecke zu einem unbekannten Ort...
Bahnhof X – Endstation. Bitte alles aussteigen. Quietschend öffnen sich die Türen, entlassen dich auf einen mit lauter fremden Menschen gefüllten Bahnsteig, die in wilder Hast einem festen Ziel zueilen. Aber du, du stehst da. Wirst ab und zu von einem der Ungeduldigen angerempelt – einem von denen, die es so eilig haben, als würden sie sonst etwas verpassen, etwa einen Termin, den sie für wichtig genug halten, dass es solch eine Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Menschen in ihrem Umfeld rechtfertigen würde.
Du weißt nicht recht, wohin. Kennst niemanden in dieser Stadt. Du bist frei, kannst überall hingehen, wohin auch immer Dein Herz dich leiten mag. Doch im Moment ist dieses stumm. Irgendwie fühlst du dich verloren, vergessen, stehen gelassen, du weißt auch nicht warum, denn eigentlich solltest du darauf gefasst sein. Es war deine Entscheidung, allein und ganz spontan, ohne Plan, hierherzukommen. Du hattest einfach nur große Lust, heute – nur heute – ein Ticket nach X zu lösen und in den nächsten Zug zu steigen, der dorthin fuhr. Es war dein freier Tag, du hattest nicht Besseres vor – also, warum nicht diesem Drang nachgeben?
Aber warum ausgerechnet X? Du hast keine Ahnung, diese Stadt sagt dir nichts, rein gar nichts verbindet dich mit ihr, und dir fällt auch keine Sehenswürdigkeit ein, die dich hier sonderlich interessiert hätte.
Noch immer ratlos, bist du inzwischen die Treppe hinabgestiegen und hast beschlossen, dir erstmal in irgendeinem Bahnhofsbistro einen Latte Macchiato zu gönnen. Während du ihn langsam im Stehen genießt, siehst du die Leute an dir vorübergehen, hängst deinen eigenen Gedanken nach und kommst dir ansonsten ziemlich anonym vor. Niemand will mit dir reden, keiner hat Zeit für einen Plausch, alle geben (ohne dies mündlich äußern – es steht in ihren Gesichtern geschrieben) vor, ihren Beschäftigungen nachgehen zu müssen, ohne ein Päuschen oder Raum für ein bisschen Menschlichkeit.
Niemand interessiert sich für eine unbekannte Person, die offenbar nicht hier einheimisch ist und noch dazu nicht sehr gesprächig zu sein scheint (irgendwie kein Wunder, dass keiner mit ihr redet, außer dem Bistrobesitzer mittleren Alters, als sie ihren Kaffee bestellt hat).
Du trinkst den letzten Schluck aus deinem Latteglas, als dir auffällt, dass noch zwei Amarettinigebäcke daneben auf dem Unterteller liegen. Die musst du wohl übersehen haben; normalerweise gedenkst du sie mit dem Löffel in den Milchschaum zu tunken. Mit einem Happs landen sie beide auf einmal knuspernd in deinem Mund. Irgendwie trocken... Aber da du nichts mehr zum Nachspülen hast, schluckst du sie halt so hinunter. Und musst husten.
Peinlich, peinlich, dass dir das ausgerechnet hier, wo alle es mitbekommen und du ohnehin als Fremdling geoutet bist, passieren muss! Wohlwollend klopft dir jemand auf den Rücken. Zunächst traust du dich nicht, dich umzudrehen; außerdem bist du ohnehin zu sehr damit beschäftigt, die Kekse in den richtigen Hals zu bekommen.
Doch als du dich dann doch umdrehst, siehst du niemanden. Am anderen Ende des Tresens glaubst du, ein paar Leute unterdrückt grinsen zu sehen, bist dir aber aus der Entfernung nicht sicher. Hast auch keine Lust hinzugehen und nachzufragen – die Sache ist dir ohnehin schon unangenehm genug. Also verschwindest du wortlos.
Wohin? Wieder diese Frage, und wieder einmal führt sie dich ins Leere. Herrgott noch mal, ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, was ich hier will!, denkst du. Einen Augenblick erwägst du, zurückzufahren. Aber dann wäre die ganze Fahrt tatsächlich umsonst gewesen. So dicke habe ich’s auch nicht, dass ich einfach so in eine andere Stadt fahre, bloß um einen Kaffee zu trinken! Das kannst du zu Hause genauso gut.
Von oben hörst du die Züge an- und abrollen. Siehst die Menschen die Treppen zu den Bahnsteigen schnell hochrennen, um noch auf den letzten Drücker ihren Zug zu bekommen. Du meinst sogar, hier und da ein leises Fluchen zu vernehmen von Leuten, die ihn trotz der Rennerei nicht mehr gekriegt haben und ihm daher nur noch von hinten nachwinken können. Zum Glück geht das Fluchen in dem lauten Gemurmel ringsum beinahe unter – oder hast du es dir tatsächlich nur eingebildet?
Egal. Du willst dich jetzt nicht damit aufhalten. Sonst bleibe ich noch ewig wie dumm an dieser Stelle stehen, ermunterst du dich selbst, und stehe den Leuten gelegentlich, vor Allem aber mir selbst im Weg. Weiter!
Du beschließt, dich einmal in Ruhe in der Stadt umzusehen. Wie du da so bei strahlendem Sonnenschein durch die Straßen schlenderst und dabei auch in das eine oder andere versteckte Gässchen blickst, das die anderen übersehen, da wird dir dieser Ort immer sympathischer. Auch die Menschen scheinen hier fröhlicher zu sein als noch im Bahnhof – selbst wenn sie gerade schwere Einkaufstüten zu schleppen haben, in denen sie all jene erfüllten Wünsche materiellen Konsums transportieren, die sie sich hier und heute geleistet haben.
Na ja, wenn es sie zufrieden stellt... Du bist jedenfalls nicht derjenige, der ihnen ihre durchscheinenden Illusionen nehmen will. Auch widerstrebt es dir, wildfremden Menschen, die gerade zufällig vorbeikommen, einen Vortrag über all das zu halten, was sich nicht mit Geld kaufen lässt. Darüber hinaus hast du Zweifel, ob sie dich überhaupt verstehen würden. Wahrscheinlicher ist dir, dass sie dich mit offenem Mund angaffen würden, als würdest du Chinesisch sprechen und hättest obendrein noch einen großen Pickel auf der Nase, denn warum sonst sollten sie so abrupt, aber wenig herzhaft, auflachen, noch bevor du dein letztes Wort gesprochen hättest?
Plötzlich erwachst du aus deiner – etwas konfusen, das gibst du zu – Tagträumerei. Irgendetwas muss deine Aufmerksamkeit erregt haben. Ist es das schöne Wetter? Das komische Haus da drüben, das du dir unbedingt einmal aus der Nähe ansehen willst (schade, dass du deinen Fotoapparat nicht dabei hast – du konntest ja nicht ahnen... shit!)? Oder ist dir irgendeiner dieser Gestalten positiv aufgefallen?
Nein, das ist es nicht. Fast hättest du den Kopf geschüttelt, bis dir wieder einfällt, dass du von lauter Menschen ungeben bist. Und was würden die wohl denken, wenn sie dich kopfschüttelnd sähen, scheinbar ohne Grund? Wahrscheinlich würden sie dich für verrückt erklären. Sie können ja nicht in deinen Kopf sehen, wissen nicht, was dich in genau dem Augenblick bewegt hat.
Ehrlich gesagt weißt du es selber nicht. Aber irgendetwas ist anders. Vielleicht ist es schlicht die Tatsache, dass du anfängst, dich an diesem Ort wohlzufühlen. Nun kennst du dich ja schon ein wenig hier aus, ist dir alles nicht mehr ganz so fremd. Vertraut wäre zu diesem Zeitpunkt zu viel gesagt, du kennst ja immer noch niemanden hier. Aber nachdem du deine ersten Schritte auf diesem für dich neuen Boden getan und gewissermaßen eine grobe Orientierung gewonnen hast, ist es dir, als würde dir alles freundlicher begegnen.
Du spürst, du hast nun die richtige Einstellung, dich dem Leben und den Menschen hier zu stellen. Mit Leichtigkeit im Herzen betrittst du ein Straßencafé und lässt dich draußen auf einem geflochtenen Stuhl nieder.
Erst jetzt bemerkst du, dass dir ein attraktiv lächelnder Mensch gegenübersitzt. Doch jetzt ist es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Also lächelst du zurück und sagst charmant:
„Hallo. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Ihnen an diesem herrlichen Tag ein wenig Gesellschaft leiste?“
Karin 01.04.2007, 08.44
Einfach toll. Karin schreib weiter. Du hast soviel zu sagen. Man spürt das du mit Herz und Seele dabei bist.
vom 02.04.2007, 08.34
Danke. Diese eine Geschichte ist aber an der Stelle schon zuende; es ist ein offenes Ende. ;-) Ja, ich weiß, es ist allgemein gemeint. :-)