Ausgewählter Beitrag

Buchvorstellung: Abschied von Sidonie

»Am achtzehnten August 1933 entdeckte der Pförtner des Krankenhauses von Steyr ein schlafendes Kind. Neben dem Säugling, der in Lumpen gewickelt war, lag ein Stück Papier, auf dem mit ungelenker Schrift geschrieben stand: »Ich heiße Sidonie Adlersburg und bin geboren auf der Straße nach Altheim. Bitte um Eltern.««

So beginnt das Buch »Abschied von Sidonie« von Erich Hackl, das mich von der ersten Seite an gefesselt und mich bis zum Ende und darüber hinaus nicht mehr losgelassen hat. Wobei ich hinzufügen möchte, dass der Autor nach meinem Empfinden das Thema und die Geschichte / das Schicksal des Zigeunermädchens durchaus sehr einfühlsam anpackt, und keineswegs eiskalt, so wie es die Kritiken meinen. Also, mich hat das Buch beim Lesen zumindest sehr berührt, und die sachlich-nüchterne Erzählweise ist meiner Ansicht nach ein durchaus gewolltes Stilmittel, um einerseits die notwendige Distanz zu schaffen, um sich ein Urteil bilden zu können, und zwar, OHNE andererseits die subjektive Perspektive auszuklammern.

Zum Inhalt: Nachdem alle Bemühungen des Jugendamtes, das Kind wieder seiner Mutter zuzuführen, im Sande verlaufen, und nachdem es in dem Krankenhaus behandelt worden ist (es leidet unter der Englischen Krankheit, einer Art Knochenverkalkung), gelangt es schließlich zu Josefa und Hans Breirather, einer Kommunistenfamilie, die allein schon wegen ihrer politischen Gesinnung in diesen prekären Zeiten in der Gesellschaft aneckt. Diese kümmern sich genauso liebevoll um das Mädchen wie um ihren eigenen Sohn Manfred und nehmen sie wie ihre eigene Tochter an. Auch die Spielkameraden integrieren sie gut in der Gruppe, obwohl anfangs noch die eine oder andere Bemerkung über ihre dunkle Hautfarbe fällt.

Später, als sie in die Schule kommt, wird allerdings schon immer deutlicher die Diskriminierung spürbar. Auch wird im Verlauf der Geschichte immer klarer, wie sehr gerade die hochrangigeren, aber auch die untergeordneten Personen in Wirklichkeit nur noch als Marionetten des nationalsozialistischen Regimes handeln und sich nicht mehr trauen, nach ihrem eigenen Gewissen (falls noch vorhanden) zu agieren.

Somit ist das Ende schon gewissermaßen vorprogrammiert: Unter dem Vorwand, Sidonie ihrer echten Mutter und Familie zu übergeben (was in dem Sinne ja auch stimmt), nimmt man sie der Ziehfamilie weg, und kurz darauf wird sie mit ihrer ganzen Familie mit dem letzten Zug nach Auschwitz deportiert, wo sie nach wenigen Wochen, die sie apathisch und nichts essend an einer Stelle herumsteht, trotz der Versuche von der Familie, sie dazu zu bewegen, etwas zu essen, und des Bruders, sie dazu zu überreden, sich zum Schlafen hinzulegen, stirbt.

Der Roman endet mit einer zusammenfassenden Betrachtung des Autors, mit der er zugleich den mangelnden Mut der verantwortlichen Personen beklagt, die es versäumt haben, im rechten Moment für das Mädchen einzutreten, anstatt den Lauf der Ereignisse durch ihr Handeln zu fördern.

Und er macht deutlich, dass es auch hätte anders sein können. So schließt die Geschichte folgendermaßen:
»Und doch besteht einer, der es wissen muss und Joschi Adlersburg heißt, darauf, dass sich auch das nicht zu Erwartende zugetragen hat, nicht in Letten, sondern 160 Kilometer weiter südlich, in der Steiermark, in einer Ortschaft namens Pölfing-Brünn, das Kind hieß nicht Sidonie, sondern Margit und lebt heute noch, eine Frau von 55 Jahren, und kein Buch muss an ihr Schicksal erinnern, weil zur rechten Zeit Menschen ihrer gedachten.«

Karin 14.11.2006, 15.32

Kommentare hinzufügen

Die Kommentare werden redaktionell verwaltet und erscheinen erst nach Freischalten durch den Bloginhaber.



Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Christina Seidl

Ich finde das eine sehr gute buchvorstellung die mir auch sehr bei meiner geholfen hat!
Hast dir viel mühe gamacht :smile:
bin froh das ich das gefunden habe das ist die beste von allen meinen funden
danke


vom 23.11.2008, 23.26
2024
<<< Oktober >>>
Mo Di Mi Do Fr Sa So
 010203040506
07080910111213
14151617181920
21222324252627
28293031   

Für Fairness!
Gegen Intoleranz!






Ich fotografiere mit:



Sony Alpha 57
(seit 2012)



Fotoaktionen



Teilnehmerliste


Meine Empfehlung
für Online-Autoren:


PageWizz
Letzte Kommentare:
Martina:
Das Stress vermeiden ist denke ich ein ganz w
...mehr
Martina:
Da bin ich dabei, eigentlich hab ich mit Yoga
...mehr
HsH:
Ich bin froh, dass mein Baum die Klappe hält
...mehr
Ingrid:
:Häh?: ... Ich dachte es heißt Adventkalend
...mehr
Anne:
Hallo Karin!Ich bin eisern, ich gebe nicht au
...mehr
Seit dem 03. Januar 2012:


Beruflich biete ich:

Texte, Lektorat und Ãœbersetzungen

Nebenschauplätze:

Frau und Technik

NEW: Utopia - International Version

NOUVEAU: Utopie francophone

Lebensharmonie

Mein Jakobsweg - Reiseblog 

Notizen und Gedanken



Glück ist ein Duft,
den niemand verströmen kann,
ohne selbst eine Brise abzubekommen.
Ralph Waldo Emerson (1803-1883)







Ein Träumer ist jemand,
der seinen Weg im Mondlicht findet,
und die Morgendämmerung
vor dem Rest der Welt sieht.

Oscar Wilde (1854-1900)


Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag,
an dem Du die 100%ige Verantwortung
für Dein Tun übernimmst.

Dante Alighieri (1265-1321)


Mein Wunschzettel
[klick]






Blogger United


Interne Welten
RSS 2.0 RDF 1.0 Atom 0.3