Ausgewählter Beitrag

Juli Zeh: Corpus Delicti

Heute möchte ich Euch ein Buch vorstellen, welches ich kürzlich gelesen habe.

Zum Cover und Titel

Auf dem Cover ist ein Raum mit weißen Wänden und Metalltür abgebildet, bei welchem es sich allem Anschein nach um eine Gefängniszelle handelt. Die weißen Wände sowie der Boden sind dabei verschmutzt. Ein passendes, suggestives Bild!

Den Titel »Corpus Delicti« interpretiere ich so, dass damit der Mensch gemeint ist. Der Mensch ist nun einmal KEIN perfektes Wesen, sondern ein Wesen mit Fehlern. In jener Welt, welche die Autorin Mitte dieses Jahrhunderts, also in der nahen Zukunft ansiedelt, gilt jedoch so gesehen genau das als »strafbar«: Das Menschsein, bzw. sämtliche Aspekte davon, die nicht irgendwie mess- oder vorhersehbar sind. Individuelle Aspekte wie eine eigene Meinung zu vertreten, anders zu denken oder auch Gefühle passen nicht in das »Konzept« jenes Staatssystems, das hier die »Methode« genannt wird, in dem die Vernunft - und nur sie - das Sagen hat und in dem Gesundheit das oberste Gut darstellt. Dass Gesundheit einen hohen Stellenwert einnimmt, hört sich zunächst einmal gar nicht sooo schlecht an. Aber in dieser beschriebenen Welt geht das so weit, dass es schon eine Art Fanatismus ist. Zudem ist jede Art von Krankheit, im weiteren Sinne aber auch alles, was jenseits der »Normalität« liegt, dort verpönt. Somit wird folglich auch der Mensch mit allem, was ihn als Individuum - und eben nicht nur als funktionierender Körper -  ausmacht, gewissermaßen als »kriminell« angesehen, und Menschsein wird unter solchen Verhältnissen zum »Delikt«.

Aber der Mensch ist nun mal keine »Saftpresse«. Um es mit Mias (der Hauptperson) Worten auszudrücken:

»Der Mensch ist verblüffend unpraktisch konstruiert. Im Gegensatz zum Menschen lässt sich jede Saftpresse aufklappen und in ihre Einzelteile zerlegen. Säubern, reparieren und wieder zusammenbauen.«

Eigene Inhaltsangabe

Der Klappentext kann hier nachgelesen werden.

Im Grunde ist ja nicht alles an dieser hier skizzierten Lebenswelt schlecht. Die dortigen Menschen leben umweltbewusst, ihr Strom kommt von erneuerbaren Energien, und sie ernähren sich so, wie man es gemeinhin als »gesund« ansieht. Sie rauchen nicht und trinken nicht.

Doch es gibt da einen riesengroßen Haken: Sie haben das nicht frei entschieden. Der Staat bestimmt, was »gut« für den Einzelnen sein soll - und was gut für den Einzelnen sein soll, ist das, was der Allgemeinheit dient und rein objektiv (!) gesehen den Menschen guttut. Die subjektive Betrachtensweise wird nicht nur außer Acht gelassen, sondern ist in dieser verstandesgesteuerten Gesundheitsdiktatur namens »Methode« sogar nicht erwünscht. Auch menschliche Attitüden sind darin nicht eingeplant.

Um zu kontrollieren, dass sich auch alle an die Gesundheitsregeln halten, müssen die Bewohner zu allen möglichen Dingen Berichte abliefern: Ernährungsberichte, Schlafberichte, sportliche Leistungsberichte, Messberichte für den Blutdruck und häusliche Urintests. Alles wird kontrolliert, sogar das Abwasser und der Müll. Zudem sind bestimmte Bereiche, wo sich naturgemäß Keime befinden können, abgesperrt. Es ist also im Grunde wie ein großes, generalüberwachtes Gefängnis.

Das Motto dieser Willkürherrschaft lautet (Zitat von der Figur der Richterin Sophie):
»Wenn wir vernünftig denken, schuldet die Gemeinschaft Ihnen Fürsorge in der Not. Dann aber schulden Sie der Gemeinschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden.«

Bei - selbst kleinsten - Verstößen wird das dem Gericht gemeldet, und dieses entscheidet dann über das Strafmaß. Neben dem öffentlichen Interessenvertreter gibt es zwar auch einen Vertreter der privaten Interessen, jedoch gibt es ihn mehr der Form halber als um tatsächlich die privaten Interessen zu verteidigen.

Nun ist Mia Holl, von Beruf Biologin, gerade in einer persönlich schwierigen Situation. Sie hat ihren Bruder Moritz verloren, der im Gefängnis lieber den Freitod gewählt hat, als sich diesem System zu unterwerfen. Wegen einer wahrscheinlich falschen Anschuldigung war er dort gelandet. Obwohl die »Beweislage« objektiv gesehen (also für das Gericht und rein logisch betrachtet) klar scheint, glaubt Mia an seine Unschuld. Immerhin ist sie seine Schwester, sie kennt ihn und hatte oft mit ihm zu tun. Sie hatten beispielsweise ihr »Ritual«, einmal wöchentlich einen Spaziergang an den Fluss zu machen, wo Moritz gerne angelte und sie über dies und das geredet haben. Niemand kann ihn besser einschätzen als Mia. Moritz war zwar ein Freidenker, hätte aber nie das getan, was ihm vorgeworfen wurde. Sie glaubt also seiner Version, bzw. sie weiß, dass er unschuldig ist -  auch wenn es nach etwas anderem aussieht und dieser Aspekt fortan als Bestätigung seiner Schuld angesehen wurde. Dass es auch eine andere - ebenfalls biologische - Erklärung geben kann, blieb dabei unberücksichtigt. Man hat da auch gar nicht näher nachgeforscht.

Bevor er starb, hat Moritz seiner Schwester noch eine imaginäre Figur hinterlassen, genannt »die ideale Geliebte«, die ihr gewissermaßen Trost spendet, die sie im Laufe des Geschehens oftmals an die menschlichen, individuellen, selbstständig denkenden und fühlenden Seiten erinnert und mit der sie auch mal wieder redet, als es plötzlich an der Tür klingelt. Es ist Heinrich Kramer, überzeugter »Methodist«, Publizist und Initiator der Wächterhaus-Initiative. Wächterhäuser sind Häuser, die für besonders vorbildliches Engagement im Sinne dieses Systems ausgezeichnet wurden und sich selbst organisieren. Der Wächterhaus-Status wird in regelmäßigen Abständen überprüft, das heißt er kann auch wieder aberkannt werden.

Lutz Rosentreter hingegen, der Vertreter des privaten Interesses, ist derjenige, der sie vor Gericht verteidigen sowie in ihrem Fall rechtlich beraten soll. Es stellt sich heraus, dass er seine eigenen Motive für ihre Verteidigung hat: Schließlich weiß er selbst nur zu gut, wie es ist, wenn plötzlich ein Ereignis das bis dahin unauffällige Leben im Einklang mit dem System durcheinander bringen kann. Bei ihm bestand dieses »Ereignis« darin, dass er sich in eine Frau verliebt hat, in die er sich laut Methode nicht hätte verlieben »dürfen«, weil ihre Immunsysteme angeblich nicht zueinander passten (auch das wird alles gemessen). Sie sind daher gezwungen, sich heimlich zu treffen. Der Fall Mia Moll ist deshalb bedeutsam, weil sich damit entscheiden könnte, wer letztendlich gewinnt: Die Methode oder die privaten Interessen inklusive der Menschlichkeit.

Oder ob man den Weg dazwischen wählt und sich somit für die Freiheit entscheidet:
»Man muss flackern. Subjektiv, objektiv. Subjektiv, objektiv. Anpassung, Widerstand. An, aus. Der freie Mensch gleicht einer defekten Lampe.«

Meine Einschätzungen

In dieser Erzählung werden verschiedene Themen kritisch beleuchtet. Einerseits führt sie vor Augen, wozu eine totale Überwachung der Bürger führen kann. Andererseits macht sie aber auch deutlich, wozu ein übertriebener Gesundheitswahn im Extremfall führen könnte. Wenn der Mensch auf seine Funktionstüchtigkeit reduziert wird, bleiben wesentliche Aspekte seiner Menschlichkeit, seine Gefühle und freien Gedanken, außer Acht. Was mit dem so genannten »Streben nach Normalität« vermieden werden soll, wird im Grunde erst dadurch begünstigt. Den Menschen gibt es nun einmal nur als Ganzes, inklusive vermeintlicher »Schwächen«. Wenn aber nur ein Teil (oder einige Bruchstücke) davon akzeptiert wird, dann wird er zwangsläufig »krank«. Wenn ein Mensch aus der aufgestellten Norm fällt (so gesehen stellt ja jede Form der Individualität bereits eine Normabweichung dar - also fällt JEDER Mensch früher oder später aus der Norm!), dann wird er in einer Gesellschaft, die sich nach so einer Norm richtet, automatisch als »krank« angesehen, und von dieser krank gemacht. Wirkliche Gesundheit ist etwas durch und durch Subjektives - und nicht etwas, das von außen festgelegt wird! Genau das aber versucht die »Methode«, ebenso wie sie versucht, ihren Bürgern diese »objektive«, »vernünftige« und messbare - aber eben sehr einseitige - Vorstellung von Gesundheit aufzuzwingen. Eine Vorstellung von Gesundheit, die auch aus sich selbst heraus bereits ihre Tücken besitzt: Denn wenn man den Menschen von allen - möglicherweise schädlichen - Einflüssen fernhält, kann er schließlich auch gar keine Abwehrkräfte entwickeln. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Sinne. Im Grunde genommen würde so ein System ihn also erst recht »schwach« machen, wohingegen er ohne dem immerhin die Chance hätte, stark zu werden.

Temporeich, mit klarer Sprache und genug Wortwitz erzählt die Autorin nun in einem auktorialen Stil Mias Geschichte. Dabei wechselt sie gelegentlich zu einer Rückblende, um dann in die Gegenwart zurückzukehren. Auch baut sie nebenbei gekonnt philosophische Ansätze mit ein, ohne dass es jemals langatmig würde. Ich mag Frau Zehs frischen, ideenreichen und teils sarkastischen Schreibstil, welcher hier zum Tragen kommt. Die Kapitel sind meist recht kurz, was eine sinnvolle Aufteilung der Lektüre ermöglicht und auch Raum zum Innehalten und über das Gelesene nachdenken lässt. Die Handlung beschreibende Passagen wechseln nahtlos mit knackigen Dialogen ab, was eine ausgewogene und stimmige Mischung ergibt. Zur Lebendigkeit trägt zudem noch die authentische Sprache bei, etwa durch die Wahl von Formulierungen, wie sie Menschen in so einem System mutmaßlich verwenden könnten. Zum Beispiel sagen sie statt »Guten Tag« »Santé« und ein bekanntes Sprichwort wurde zu »Hol mich der Virus!« abgeändert.

Die wenigen Hauptcharaktere sind ausreichend gut gezeichnet. Das heißt, sie sind klar voneinander zu unterscheiden und ihre Beziehungen zueinander (wie sie zueinander stehen) werden deutlich. Darüber hinaus fügen sie sich gut in das Geschehen ein und erfüllen ihren jeweiligen Zweck. Es handelt sich hierbei um eine abgeschlossene Geschichte.

Fazit

Wer gesellschaftskritische Literatur mag und auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken angeregt werden möchte, dem kann ich dieses Buch nur ans Herz legen!

Die Autorin

Juli Zeh wurde 1974 in Bonn geboren. Sie hat Jura studiert. Weitere Infos

Daten

Juli Zeh: Corpus Delicti
Verlag: Schöffling & Co.
ISBN: 9783895614347
Erschienen im Mai 2009 in Frankfurt am Main
Satz: Reinhard Amann, Aichstetten
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
272 Seiten

Karin 05.06.2011, 20.14

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