(Ein anderer Titel fällt mir dazu nicht ein - denn genau das ist es bzw. genau SO wirkt das Thema auf mich.)
Momentan lese ich - unter anderem -
Evangeline von D. W. Buffa.
Dieses Thema beschäftigt mich währenddessen so sehr, dass ich mir meine eigenen Gedanken darüber gemacht habe.
Nach meinem jetzigen Wissensstand bin ich (bzw. ist mein
Verstand) zu dem erschreckenden Schluss gekommen, dass diese Menschen in dem Fall wohl wirklich keine andere Wahl hatten.
Denn: Wie ich beim Sinnieren über diese knifflige Frage schon
vermutete, ist in solchen Extremsituationen der Verstand (und somit
auch das moralische Denken, das Analysieren unter anderem des Nutzens
im Verhältnis zum Rest) völlig
abgeschaltet. In solchen Momenten herrscht offenbar nur noch der Selbsterhaltungstrieb vor.
Geht man nun davon aus, dass der Verstand ganz
automatisch
abgeschaltet wird, ohne dass man einen willentlichen Einfluss darauf
hat (oder auch dass er, weil er eben nicht dem Ãœberleben dient, so wie
alle zu viel Energie erfordernden, nicht lebensnotwendigen
Körperfunktionen, bis zum unabdingbaren Maß heruntergefahren wird) -
wenn sich also alles auf das nackte Überleben konzentriert, ohne über
die Konsequenzen usw. nachzudenken (nachdenken zu
können)
- dann ist wohl leider auch so etwas, das ich mich nicht getraue,
namentlich zu äußern, nicht auszuschließen. Und in diesem Fall hätten
sie wohl nicht anders gekonnt, weil ja der Verstand, der sie
rechtzeitig daran hätte hindern können, nicht funktionstüchtig war.
Das zumindest besagt die Logik.
Vom
Gefühl her fällt es mir
jedoch nach wie vor schwer zu begreifen, was in einer solchen Situation
in den Köpfen der Menschen vorgeht. Ich denke, dazu müsste man es
selbst erlebt haben - hoffentlich kommen wir nie in diese Lage! Es wäre
grauenvoll.
Wenn man nie in so einer Extremsituation war (und diese auch
überlebt
hat!), ist es leicht zu sagen: "Ich würde das niemals tun. Lieber würde
ich sterben, als einen anderen Menschen für einige andere - zudem mit
letztendlich immer noch ungewisser Ãœberlebenschance - zu opfern und (oh
Graus!, Igitt! und Pfui!) ...".
Im Augenblick einer solchen Aussage ist man ja bei vollem Verstand. So
lange dies gegeben ist, ist es ja auch kein Problem, diese Haltung und
diesen Vorsatz umzusetzen. Niemand, der bei vollem Verstand ist,
würde... so handeln. Zumal wenn der Nutzen (ein paar Tage länger leben
- was ist das schon, wenn man möglicherweise ohnehin sterben muss? In
dem im Buch behandelten Beispiel konnten sie ja nicht vorher wissen,
dass doch noch ein Schiff vorbeikommen und sie retten würde) auch noch
in keinem Verhältnis zu einer solchen Tat steht. Von allem anderen
einmal abgesehen.
Doch wenn dieser Verstand, der nötig ist, um all diese Überlegungen zu
treffen, tatsächlich völlig aussetzt (für mich am schwersten
vorstellbar), dann sieht es möglicherweise etwas anders aus.
Aber setzt in diesen Situationen wirklich all das aus, was einen
Menschen zum Menschen macht? DENKT er wirklich dann nichts mehr, strebt
nur noch sein Instinkt danach, seinen unerträglich gewordenen Hunger zu
stillen - egal womit??? Gibt es nicht doch einen Moment, in dem er sich
entscheiden kann - und eventuellen Zweifeln stattgeben?
Wie sieht es eigentlich in der Tierwelt aus (und in solchen Momenten
sind die Menschen offenbar kaum mehr)? Sind dort Fälle bekannt, in
denen Tiere in einer extremen Notsituation andere Tiere ihrer eigenen
Art fressen?
Es gibt verschiedene
Gründe,
warum die Tiere so etwas tun. Hier dient es meist dazu, einer
Ãœberpopulation vorzubeugen (weil eben nicht alle Artgenossen versorgt
werden könnten).
In Notsituationen hingegen... da habe ich bei Tieren nichts in der Art herausfinden können. In
diesen Fällen scheinen nur Menschen so etwas zu tun.
(Sind Tiere somit eher in der Lage, ihr eigenes Ende, so es denn
bevorsteht, hinzunehmen? Anstatt um jeden Preis - und sei es nur ein
paar Tage - weiterleben zu wollen? Eben
weil sie
nicht darüber nachdenken können - oder weil sie instinktiv begreifen,
dass sie nur ein kleines "Rädchen" im Gefüge namens Natur sind und es
jetzt eben Zeit ist zu gehen? - Aber das wäre schon ein Thema für
sich.)
Es ist ein sehr verzwicktes und weitverzweigtes Thema.
Ich bleibe dabei, dass ich nie werde
Verständnis dafür aufbringen können. Dennoch hat mir die gedankliche
Beschäftigung damit geholfen, zumindest theoretisch zu verstehen, was
die Menschen in solchen Situationen (und nur dann) dazu treiben könnte.
Vorstellen kann ich es mir aber immer noch nicht.
Und jetzt höre ich auf. Denn wenn man sich zu lange damit beschäftigt, läuft man Gefahr, dass einem schlecht davon wird.
Das Buch hat mich genauso beschäftigt. Tage später habe ich noch darüber nachgedacht und es hat mich lange nicht losgelassen.
Ich denke, dass der Ãœberlebensmechanismus sehr stark ist, egal ob bei Tier oder Mensch. Geht es nur noch ums pure Ãœberleben, werden gewisse Schutzmechanismen freigesetzt, die das Ãœberleben sichern sollen.
Der Verstand wird da mit Sicherheit manipuliert. Ich denke aber, dass es auch in der Tierwelt solche Fälle gibt. Dort ist es eigentlich normal, dass die schwachen und kranken Tiere aufgefressen werden. Es gibt sogar Fälle, wo die Mutter ihre eigenen Babys auffrisst.
Da der Mensch sich ja als hochintellektuelle Spezies betrachtet und den Verstand über alles stellt, sind solche Überlebensstrategien natürlich nicht gesellschaftsfähig. Aber letztendlich glaube ich, dass jeder in dieser Situation so gehandelt hätte, auch wenn es fern ab von der eigenen Vorstellungskraft geht.
Ich glaube, über dieses Thema könnte man stundenlang diskutieren, philosophieren und nachdenken.
LG Pat
vom 08.09.2008, 13.14
Jetzt, wo ich das Buch zuende gelesen habe, fällt mir noch ein: Es könnte auch eine Art Gruppenzwang eine Rolle gespielt haben. Denn es gab ja durchaus einige wenige, die dem zuerst kritisch gegenüber standen bzw. es nicht wollten. Aber durch die Entscheidung der Mehrheit waren sie praktisch gezwungen, mitzumachen (wahrscheinlich hätte es auch nichts genützt, NICHT mitzumachen - weil sie ja ohnehin gestorben wären).
Und das "Auslosen" war offenbar eine Möglichkeit, das Ganze einer bestimmten "Ordnung" zu unterwerfen - weil sie sich sonst gegenseitig barbarisch ermordet hätten.
Außerdem wird im Verlauf der Verhandlung ja deutlich, dass Marlowe das alles nicht gewollt hat - hätte er irgendeine bessere Alternative gesehen, wäre es dazu sicherlich nicht gekommen.
Dann ist noch der Aspekt mit dem "dem Tod - den sie als unvermeidlich ansahen, weil sie nicht an eine Rettung glaubten - einen Sinn geben, indem sie füreinander starben". Na ja... stimmt, es wäre eine Endlosdiskussion.
(Ich hoffe, ich habe mit meiner Ergänzung jetzt nicht zu viel über das Buch verraten - ich empfehle es nach wie vor allen, die es noch nicht gelesen haben!)