Ausgewählter Beitrag
Spiegel meiner Seele
Du sagst, ich brauche mich nicht zu verstecken.
Du sagst, ich solle mich geben, wie ich wirklich bin.
Denn nur wenn ich ich selbst bin, kann ich auch so angenommen werden.
Aber wer bin ich?
Kenne ich mich denn selber?
Wie sollen dann andere mich kennen?
Doch manchmal glaube ich, Du kennst mich besser als ich mich selbst.
Du verstehst mich besser als ich mich selbst.
Du bist Dir ähnlicher als ich mir selbst.
Und doch bist Du anders als ich.
Mein Gegenpol.
Der Mensch auf der anderen Seite des Spiegels,
der mir aufmunternd zulächelt, wenn ich weine,
und der weint, wenn ich lache, obwohl mir zum Weinen ist.
Der meine liebevolle Geste spiegelverkehrt erwidert.
Der mir manchmal das Wort verdreht
und mich oft verstummen lässt, wenn er welche äußert,
die mir nicht gefallen.
Die ich scheinbar nicht hören will,
die aber der einzige Weg sind,
mich mit mir selbst zu konfrontieren.
Ja, Du bist meine Enzyklopädie,
die sich mir offenbart,
wenn ich mal wieder ratlos vor mir selber stehe.
Wenn ich die Scherben meines Seins und Tuns aufkehre
und ich merke, dass ein paar Puzzleteile fehlen,
dann fällst Du mir in die Hände,
ich schlage Dich auf
und lerne neue Seiten an mir kennen.
Oder entdecke verblüffende, vergessen geglaubte Phänomene,
die durch Dich in neuem Licht erstrahlt sind
und von denen ich nicht mehr dachte,
dass sie jemals aus ihrem Winterschlaf erwachend
zu Tage befördert werden würden.
Natürlich können auch Bücher manchmal irren.
Sie sind niemals endgültig, immer nur Abbild eines Moment oder einer Epoche,
und sie können revidiert werden.
Aber die Geste, mit der Du es mir im Spiegel vor die Nase hältst,
sie lügt nicht.
Und auch das Spiegelbild trügt nicht.
Was wie ein Gegensatz aussieht,
ist in Wahrheit nur eine andere Perspektive.
© Karin Scherbart