Ausgewählter Beitrag

Von Schneckenhäusern

"Wie will die Schnecke vorankommen,
wenn sie nicht aus ihrem eigenen Haus kriecht?"

(by Friedrich Löchner, Pseudonym: Erich Ellinger)

Darüber wird heute bei der Zitante nachgedacht und diskutiert.

Ich finde es schon erstaunlich und immer wieder spannend, wie unterschiedlich ein Zitat interpretiert werden kann und wie es in jedem ganz individuell eigene Gedankengänge auslöst.

Mich sprach dieses Zitat heute ganz besonders an. Auch ich neige ab und an dazu, mich in mein Schneckenhaus zurückzuziehen. Das sehe ich aber nicht nur negativ, denn manchmal brauche ich das auch. Einerseits, um mich zu regenerieren, andererseits aber auch, um wieder zu mir selbst zu kommen und z. B. Erfahrenes zu reflektieren und zu verarbeiten.

Natürlich wäre ein vollkommener und dauerhafter Rückzug aus der Gesellschaft anderer seelisch ungesund. Auch ich würde mich dann sehr einsam fühlen, und würde irgendwann merken, dass mir etwas fehlt und dass ich so auf Dauer nicht weiterkomme. Außerdem würde dann meine Motivation sinken, und ich würde unter diesem Umständen langfristig sicherlich sogar die Hoffnung verlieren, überhaupt etwas erreichen zu können.

Beides sollte also im Einklang sein.



Vor einiger Zeit, als mich mal wieder ein kreativer schreiberischer Impuls überkam, habe ich einen Text geschrieben, der jetzt sehr gut zum Thema passt und noch weitere Aspekte anspricht.

Das Schneckenhaus


Eigentlich war es ja ganz einfach, aus ihrem Schneckenhaus hinauszugelangen: Sie musste nur den Windungen ihres eigenen Gehäuses folgen, bis sie irgendwann am Ende des Tunnels das Tageslicht erblickte. Sicher, am Anfang würde es sie blenden, wie es immer so war, wenn sie sich eine gewisse Weile im Dunkel ihrer schützenden Höhle versteckt hatte, um sich für die nächste Konfrontation mit der Welt da draußen zu rüsten. Doch wie immer würde sie sich nach einer gewissen Zeit daran gewöhnen – wenn man ihr diese Eingewöhnungszeit ließ. In dieser sich schwindelerregend schnell drehenden Welt jedoch war es nicht die Regel, einer Schnecke wie ihr diese Zeit zu lassen. Diese Welt schien eben nicht für sie gemacht. Hier drin, in ihrem eigenen Haus, bestimmte sie das Tempo. So sollte es zumindest unter normalen Umständen sein. Tatsächlich fiel es ihr selbst hier manchmal schwer, ihr Gleichgewicht zu finden. Denn die Geräusche von draußen drangen stets auch durch die gepanzerten Wände ihres Schneckenhauses hindurch. Außerdem wurde dieses regelmäßig von den vorbei eilenden Schritten erschüttert, deren dazugehörige Füße ab und zu auch mal gedankenlos gegen diese scheinbar unbewohnte Schale stießen, ohne es zu bemerken und oftmals nicht einmal mit Absicht. Wenn dieses kleine, unscheinbare Wesen darin wenigstens geschrien hätte, hätten die standhaften Zweibeiner beim nächsten Mal vielleicht besser aufgepasst, nicht dagegen zu treten. Wenn es der Schnecke nur möglich gewesen wäre, zu schreien... Und stumme Kommunikation wird ja mit einer Mauer dazwischen nicht wahrgenommen.

Letztendlich half also alles nichts: Sie musste hier raus. Hier drinnen, wo nur ihre eigenen stillen Gedanken den Raum füllten und an dessen Wänden widerhallten, würde sie sonst irgendwann noch verrückt werden. Es war eng hier drin, nur in ihrer eigenen, prallen Gesellschaft. Nicht, dass sie ihre eigene Gesellschaft nicht genossen hätte – aber irgendwann, wenn die kreisenden Gedanken immer lauter wurden, als müssten sie etwas Fehlendes kompensieren, kam immer der Punkt, wo es zu viel war. Zu diesem inneren, klaustrophobischen Druck kam dann noch der Druck von außen, bei dem sie manchmal das Gefühl hatte, die Schale würde knackend zerdrückt. Insgeheim stellte sie sich in solchen Momenten vor, wie diese eines Tages dabei zerbröselte und dann zwischen irgendwelchen Händen herabrieselte wie grobkörniger Sand, der kurz darauf von einer Meerwasserwelle hinweggespült würde. Wäre das vielleicht besser? Wenn zumindest die einzelnen Teile von ihr auf diese Weise in die Freiheit hinausgeschickt würden, quasi wie ein Sprung ins kalte Wasser?

So sehr sie auch überlegt, kann sie nicht zu dem Schluss kommen, dass diese Form der Freiheit erstrebenswerter sein sollte, als die vollständige Freiheit. Nein, wenn schon, dann möchte sie die Freiheit als Ganzes, um sie dann mit sämtlichen Poren auskosten zu können. Um aus ihr all die Kraft zu schöpfen, die ihr, gefangen in ihrem eigenen Schneckenhaus, fehlt. Die Kraft, ihren Weg zu gehen, den sie dann nicht erst suchen muss, weil dieser Weg sie finden wird.

Vorsichtig, aber noch zaghaft, schleicht sie sich in Richtung Ausgang. Noch ängstlich, erinnert sie sich daran, als man sie beim letzten Mal durch kräftiges Schütteln ihres Schneckenhauses an den Ausgang getrieben hatte, nur um sie dann mit einigen Stichen, denen sie nur mit Mühe ausweichen kann, zurück in dieses zu drängen. Die Flucht ins Innere hatte sie immer als einzige Möglichkeit gesehen, eine allzu schwere Verletzung zu verhindern. Jetzt aber erkennt sie, dass es noch einen anderen Weg gibt: Dort draußen, wenn es ihr erst gelungen ist, aus ihrem Haus herauszukommen, gibt es sooo viel Raum, und bestimmt auch für sie Nischen, in denen sie bei Bedarf einen Unterschlupf suchen kann, um dann, wenn sie dazu bereit ist, wieder in die Welt hinaus zu gehen. Nicht anders macht es auch der Einsiedlerkrebs – deshalb ist er frei, dorthin zu gehen, wohin auch immer es ihn zieht. Aus eigenem Antrieb. In einem Schneckenhaus verschanzt würde ihm hingegen irgendwann die Luft ausgehen.

Auch die Schnecke hat das Gefühl, dass es allmählich stickig hier drin wird. Es wird immer stickig, wenn sie sich lange genug in ihrem Häuschen zurückgezogen hat. Nun endgültig entschlossen, strebt sie in die Richtung, von der ein Luftzug stetig hereinweht. Dort ist auch das Licht, das sie schließlich viele Dinge klarer sehen lassen wird, sobald ihre Augen sich daran gewöhnt haben. Nichts kann sie jetzt mehr zurückhalten, weil der Wille mittlerweile größer ist als die Angst vor Zurückweisung und Unverständnis. Da plötzlich erscheint ein heller Strahl vorne... Bevor sie sich noch einmal umdrehen kann, stürzt sie hinaus. Licht und Wärme umhüllen sie, geben ihr Geborgenheit und Sicherheit.

Es war wirklich so einfach. Das Schwierige daran war nur, über ihren eigenen, mit der Zeit scheinbar in Beton eingemeißelten Schatten zu springen. Nun, da sie dies getan hat, ist ihr federleicht zumute. Nichts kann sie mehr umhauen, weil die Landung einer Feder in plötzlicher Windstille immer weich ist.


© Karin Scherbart

(Klauen verboten!)

Karin 14.07.2009, 20.41

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Falk

Ich meine, dass die Schnecke ja nicht umsonst ein Schneckenhaus hat. Welches ihr in bestimmten Situationen zumindest einen geringen Schutz bietet. Wenn auch nicht davor, von dem Schnabel eines Vogels geknackt zu werden. Jedenfalls würde ich mir als Schnecke mit Schneckenhaus von keinem Herrn Löchner oder Ellinger irgendwelche Vorschriften machen lassen! :blinky:

Und wie schnell ich unterwegs sein möchte, ist auch meine Sache. Ich persönlich bewege mich in manchen Situationen nicht ganz so schnell vorwärts. Z.B. halte ich gerne mal an, um ein interessantes Fotomotiv aufzunehmen :twink: ... :blinky:

Liebe Grüße
Falk

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