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Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden

Roots.pngZwei Handlungsstränge werden in diesem Roman miteinander verwoben.

Im Paris des Jahres 1867, noch unter der Herrschaft Napoleons III, wird das Kind der armen Näherin Marie Lazès im Kanal St. Martin im Stadtviertel Belleville tot aufgefunden. Beschuldigt wird automatisch die Mutter des Kindes, obwohl diese immer wieder bekräftigt, sie habe ihr krankes Kind Camille im Krankenhaus Lariboisière abgegeben. Der junge Jurist Antoine wird mit dem Fall als Pflichtverteidiger betraut. Anfangs glaubt er noch den offiziellen Unterlagen, welche die Mutter als Mörderin bezichtigen. Schließlich gibt es in jener Zeit der Armut und Verzweiflung etliche Fälle von Kindermord - es wäre also kein Einzelfall. Zudem rechnet er sich wenig Chancen aus, im Falle einer Unschuld diese erfolgreich vor Gericht beweisen zu können. Doch schon bald wird ihm klar, dass irgendetwas bei diesem Fall ganz und gar nicht stimmt. Er stellt Nachforschungen an, wobei er auch von Mathilda, der Schwester seines englischen Ingenieurfreundes Nicholas, und später auch von dem Journalisten Lucien Marivol, unterstützt wird. Und dann ist da noch Maries Sohn Johann (der Vater des Kindes war ein deutscher Gastarbeiter, daher ein deutscher Name), der kurz zuvor noch Antoine und Nicholas mit seiner Straßengang überfallen hatte. Nun aber wird deutlich, dass er nur ein armer Junge ist, der sehr viel Leid durchmachen und stets auf der Hut sein musste.

1992, ebenfalls in Paris, begegnet der deutsche Ich-Erzähler Bruno Tucher bei Recherchen in der historischen Bibliothek der Südfranzösin Gaëtane. Er recherchiert in der Bibliothek Informationen rund um die damalige Weltausstellung, die er für einen Aspekt in seiner Doktorarbeit braucht. Gaëtane hingegen befasst sich mit derselben Zeit aus einer anderen Perspektive. Die geheimnisvolle Frau verzaubert ihn sofort, obwohl sie zunächst sehr reserviert miteinander umgehen und eine Annäherung nur sehr langsam erfolgt. Und auch, als sie sich doch allmählich und mit Abständen dazwischen näher kennen lernen, gibt es immer wieder Rückschläge, die ihn verunsichern. Es stellt sich übrigens heraus, dass sie ein Buch über eben diesen Fall der Marie Lazès schreibt. Dieses Buch bildet den ersten Handlungsstrang, der abwechselnd mit dieser Geschichte erzählt wird. Und auch Gaëtanes Verhaltensweise sowie die Unsicherheiten am Anfang erklären sich im fortgeschrittenen Stadium der Lektüre...

Meine Rezension

Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich dieser Roman gefesselt. Durch den ausgeklügelten Aufbau der Handlung, in dem niemals zu viel verraten wird und Informationen erst nach und nach aufgedeckt werden, blieb stets der Anreiz zum Weiterlesen erhalten. Ich wollte immer wissen, wie es weitergeht und welche Wahrheiten sich im Laufe der Zeit offenbaren würden. Zugleich lie die Erzählung Raum zum eigenen Nachdenken über das Geschehene und mögliche Beweggründe der Personen.

Die Charaktere - vor allem die Figuren aus dem historischen Teil - empfand ich als glaubhaft herübergebracht. Ihre jeweiligen Eigenheiten etc. sind nach meinem Eindruck ausreichend konturiert, und ich konnte mich gut in die verschiedenen Perspektiven hineinfühlen. Das Leid der in St. Lazare in Untersuchungshaft befindlichen Marie Lazès, das ihr praktisch ins Gesicht geschrieben steht (so deutlich stand es beim Lesen der Schilderungen vor meinem geistigen Auge). Mathildas Reaktion auf die Armut, die sie sieht, ihre Begegnung mit Marie, als sie diese heimlich im Gefängnis besucht und den Wunsch verspürt, der Frau, von dessen Unschuld sie nun erst Recht überzeugt ist, zu helfen. Aber auch Antoines missliche Lage als Verteidiger, der zunächst hin- und hergerissen ist zwischen dem Wunsch, die Wahrheit herauszufinden, und der Befürchtung, bei der Verteidigung vor Gericht keine Chance zu haben. All das, aber auch die andere Geschichte zwischen Bruno und Gaëtane, erlebte ich beim Lesen 1:1 mit. Das betrifft auch die etwaigen Fehleinschätzungen der Figuren untereinander. So hatte Antoine, aus dessen Perspektive die eine Geschichte häufig erzählt wird, zu Beginn Vorbehalte gegen den Pressemenschen Marivol (und auch dieser hatte Antoine fehleingeschätzt bzw. in diesem Fall unterschätzt). Später kamen die beiden aber durchaus gut miteinander klar.

Eine der gelungendsten und charakterstärksten Figuren dieses Romans ist für mich Mathilda. Sie ist eine erstaunliche Frau. Sie strahlt ein Selbstbewusstsein aus, wie es in der damaligen Zeit keineswegs selbstverständlich war. Sie setzt unabhängig von den damaligen gesellschaftlichen Konventionen ihren Willen durch und lässt sich nicht täuschen. Am liebsten hätte sie Medizin studiert, was dem weiblichen Anteil der Bevölkerung in England und Frankreich jedoch zu jener Zeit leider verwehrt blieb. Versucht hat sie es dennoch, einen Platz zu bekommen! Leider ohne Erfolg. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihre wissenschaftlichen Interessen privat zu verfolgen. Ergänzend mit einem guten Gespür erweist sich ihr Interesse für Medizin auch als große Hilfe bei der Lösung dieses Falls...

Wie es sich letztendlich herausstellt, ist anders als gedacht. Zwar werden immer wieder Andeutungen ausgestreut, die irgendwie auch in die richtige Richtung führen - aber die genaue Lösung, die sich spät offenbart, überrascht dann doch. Und wie es sich für solche spannenden Romane gehrt, wird der Leser auch teils auf falsche Fhrten geführt. Dies allerdings so gekonnt, dass man das Wesentliche nicht voraussehen kann.

Ist das Buch im gesamten Verlauf schon sehr berührend gewesen, sowohl bezüglich der Einzelschicksale als auch von den Gegebenenheiten des Umfeldes in jener Zeit her und der Atmosphäre, so macht die Auflösung einmal mehr betroffen und nachdenklich.

Auch wenn die beiden Geschichten an sich fiktiv sind, so macht der Autor mit diesem Roman dank der realistischen und im Detail gut recherchierten Darstellung dem Leser doch deutlich, dass es genauso sein könnte. Am System ändert sich so schnell nichts. Wenn es um Geld geht, geschehen die ungeheuerlichsten Dinge, die letztendlich zu Lasten von Menschen(leben) gehen können. Und das, was Gaëtane passiert ist, könnte im Grunde jedem passiert sein. Mehr kann ich nicht verraten. Lest selbst! Ich kann Euch diesen Roman nur ans Herz legen.

Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden

PS: Die anderen Rezensionen meiner gelesenen Bücher zur Back-to-the-Roots-Challenge, folgen auch in nächster Zeit. (Mit dem Lesen war ich ja gut in der Zeit, mit dem Rezensieren leider nicht so ganz.) Von den anderen gelesenen Büchern werde ich eventuell nicht mehr alle Rezensionen schaffen, jedoch will ich auf jeden Fall einige auserwählte davon noch rezensieren.

Karin 05.10.2012, 22.07

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