Auf der Suche nach der beSINNlichen Weihnacht Die Geschenke waren alle ausgepackt, die Familienmitglieder pappsatt, die Kinder quietschfidel und aufgekratzt mit den coolsten Spielzeugen beschäftigt, die Erwachsenen leicht angeschwipst mit sich selbst und ihrem eifrigen Gerede. Man hatte sich ja sooo viel zu erzählen, weil man ja nur einige Kilometer voneinander entfernt wohnte und sich doch nie sah, bzw. ein Telefon besaß und es doch nicht benutzte, um spontan den Schwager oder die Schwiegermutter anzurufen, um sich mit ihr zu versöhnen (was selbst ein randgefülltes, trunken machendes Weihnachtsfest nicht wirklich vermochte).
Der Abend war schon weit fortgeschritten. Es war schon so spät, dass man unter normalen Umständen die weniger als zwölf Jährigen unter den Kindern bereits ins Bett geschickt hätte.
Doch heute war ja ein ganz besonderer Tag. Heute war Weihnachten. Heiligabend, um genau zu sein. Ein Abend, der eigentlich heilig sein sollte.
Na, jedenfalls sollten auch die Kinder ihren Spaß haben. Nun waren sie ja auch reich beschenkt worden. Endlich war die Quengelei vorüber, die schon am festlich gedeckten Esstisch begonnen hatte: »Mama, wann ist denn nun endlich die Bescherung?« fragte der zapplige Jonas und noch bevor die Mutter etwas erwidern konnte, stieß er wie zur nonverbalen Beantwortung seiner eigenen Frage sein Colaglas um, dessen Inhalt sich braun-klebrig über die weiße Tischdecke ergoss. In der aufbrausenden Hektik eines Tischnachbarn stürzte daraufhin wie in einer Kettenreaktion auch noch ein Salatteller klirrend auf den Boden.
»Da hast Du nun Deine Bescherung! Bist Du jetzt zufrieden?« fauchte die Mutter des kleinen Monsters, äh... Jonas, ihren Sohn an und gab ihm eine schallende Ohrfeige, bevor sie sich daran machte, das Durcheinander von Scherben und Salatblättern mit den bereitgestellten Utensilien, Handfeger und Schaufel, zu beseitigen und anschließend die Fliesen vom ausgelaufenen Salatdressing zu reinigen.
Währenddessen tupfte sich Onkel Achim, der den Teller in seiner Aufregung heruntergeschmissen hatte, mit seiner Serviette einen Fleck auf der Hose ab, der dadurch jedoch nicht ganz verschwand. Und Tante Hermine, die Gastgeberin, war sogleich aufgesprungen, hatte das bereits fast geleerte Geschirr und die vollen Gläser vorsichtig beiseite geräumt, um die Tischdecke zu wechseln und vor dem Auflegen der neuen das Möbelstück mit einem Tuch trockenzuwischen. Dann stellte sie alles wieder darauf.
Den Gästen, die diese ganzen Vorgänge stillschweigend mit den Augen verfolgt hatten, ohne sich auch nur selbst zu rühren, war allerdings der Appetit vorübergehend vergangen, und so hatte man beschlossen, die Bescherung ein wenig vorzuverlegen. Wer danach noch wollte, konnte ja den Nachtisch anschließend zusammen mit dem Dégistif einnehmen, während die Kinder mit ihren neuen Geschenken im Wohnzimmer um den Baum herum spielten und die Erwachsenen folglich hier in der Diele - so sah es der Plan vor - ihre eigene Ruhe hätten.
Doch Pustekuchen! Plötzlich erhob sich von nebenan so ein Geschrei, dass Tante Hermine es schon bitter bereute, das Wohnzimmer nicht im Laufe des vergangenen Jahres mit einem schalldämpfenden Material isoliert zu haben, so wie sie es sich schon seit langem vorgenommen hatte. Da fielen einem ja die Ohren ab!
Nicht nur sie bekam nach einer Weile pochende Kopfschmerzen - und das lag nicht nur am Alkohol.
»Nun schau doch mal nach, was da los ist!« beschwerte sich ihre Schwester, als der Lärm - offenbar stritten sich die Kinder um ein Spielzeug - und der dadurch bedingte Brummschädel ins Unerträgliche zu wachsen drohten. »Das ist ja nicht auszuhalten mit den Gören. Da muss doch mal jemand klar Schiff machen.«
Im selben Augenblick kündigte Oma Gretchen an, sie wolle nach Hause gefahren werden. Jetzt sofort.
Hin- und hergerissen blickte die Gastgeberin, dessen krebskranker Ehemann sich vor fünf Jahren am ersten Weihnachtstag erschossen hatte, nachdem ihm seine Frau durch eine Heiligabendaffäre unterm Mistelzweig das Herz gebrochen hatte, gestresst in die Runde. Dann seufzte sie auf: »Kümmert Ihr Euch darum, wer unsere Großmutter heimfährt. Ich muss jetzt die kleinen Biester zur Raison bringen.« Sprachs und knallte kurz darauf die Wohnzimmertür hinter sich zu.
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»Also, Kinder, was ist los?« fragte sie scharf, nachdem sie die Rasselbande erst einmal kräftig zusammengestaucht hatte.
Ein schüchterner Junge, den sie nach einigem Überlegen als ihren Neffen Michi identifizierte, trat weinend hervor. »Mein großer Bruder hat mir mein Rennauto geklaut. Er ärgert mich, und die Mädchen lachen mich deswegen aus.«
Die Tante wandte ihrem Blick Raphael zu, dem genannten Übeltäter. Sie durchdrang ihn mit diesem feindseligen Blick, der tatsächlich seine Wirkung zeigte, weil der Große Angst dabei bekam, und weil er wusste, dass Hermine sehr giftig werden konnte, wenn er jetzt nicht nachgab.
»Nun? Gibst Du es ihm freiwillig zurück? Oder...«
Raphael schüttelte nervös den Kopf. »Hier, kleiner Bruder! War nicht so gemeint.«
»Brav.« kommentierte die Tante, und konnte sich sogar den Ansatz eines Lächelns abringen, das allerdings etwas schief ausfiel. »Dann spielt mal schön weiter. Aber leise. Und tobt nicht zu wild - der Weihnachtsbaum soll noch mindestens zwei Tage stehen bleiben. Ist das klar? Allen?« Mit einem letzten Anflug ihres durchdringenden Killerblicks schaute sie noch einmal jeden einzeln an.
Die Kinder nickten nur schweigend.
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Als sie zu der geselligen einmal im Jahr zusammensitzenden Sippe zurückkehrte, stellte sie erleichtert fest, dass das Problem mit der heim wollenden Oma bereits geklärt worden war. Wenigstens das. Dass sie wegen der Racker nicht einmal die Zeit gefunden hatte, sich von ihr zu verabschieden, machte ihr gar nichts aus. Spätestens in einigen Jahren würde sie Gelegenheit haben, von der alten Frau ein für allemal Abschied zu nehmen - an ihrem Grab.
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Von all diesen Turbulenzen und Absonderlichkeiten blieb nur einer unberührt. Immerwährend lächelnd lag er in einer Holzhütte, über die sich die Zweige einer großen Nordmannstanne unbewegt reckten. Die Hoffnung und Seligkeit in seinem Blick würde wohl auch im absurdesten Chaos der Menschheit niemals schwinden. Und sein Gesicht etwa durch quer darüber gemalte Pinselstriche oder Kratzer zu entstellen, würde niemand jemals wagen. Es sah eben so friedlich aus, wie es da so in der Krippe lag, das Jesuskind.
Außerdem sollte die Figur noch viele weitere Jahre halten, hatte sie damals doch einiges an Geld gekostet, allerfeinstes Porzellan, und der Stoff für die Windel mit Goldfäden durchwirkt. Ob der Frieden ebenfalls so lange halten würde wie das wertvolle Christkind, diese Frage stand nicht zur Debatte.
Das Christkind. Irgendwie sah es verloren aus, wenngleich glanzvoll in Szene gesetzt - sogar beleuchtet war das Krippenszenario. Und doch schenkte keine Menschenseele ihm Beachtung. Sie waren alle mit sich selbst beschäftigt. Mit ihrem eigenen Mist. Fühlten sie sich auch wohl dabei? Merkten sie nicht, wie tief sie schon eben da drinsteckten, und fürchteten sie sich nicht, darin einst zu ertrinken? Egal. Ihnen war es egal.
Man hätte das Christkind durch einen kleinen Buddha ersetzen, Maria durch eine kopftuchtragende Muslimin, Josef durch einen einflussreichen Rabbi, anstatt des Esels einen göttlichen Elefanten in den Stall stellen, den weißen und schwarzen Schafen Menschenköpfe aufsetzen und die Hirten fortschicken können, sogar den Schweifstern hätte man durch eine grelle Sonne ersetzen können - und die Besucher hätten nichts bemerkt noch wäre ihnen ein Licht aufgegangen. Es war ihnen schlicht egal.
Dem Christkind auch? So wie es regungslos dalag. Lächelte, obwohl es sein gutes Recht gewesen wäre, die Menschen auszulachen. Oder vielmehr über sie zu weinen. Doch das konnte es nicht. Es war aus Porzellan. Auch dieses Kind war einst von Menschen geschaffen worden. Es hatte gelebt, wenn auch nur kurz. War erwachsen geworden, ohne dass es ihm vergönnt war, lange genug von diesem Erwachsensein zu kosten. Es war dann getötet worden - von schuldigen Menschen, die meinten, ihre Schuld an ihm abladen zu können, weil er selbst ihnen zu unschuldig gewesen war. Das gefiel ihnen nicht, und es brachte sie in Rage, dass jemand möglicherweise besser sein könnte als sie.
Er konnte nichts tun, der Porzellanmensch. Alles würde seinen Lauf nehmen. Jedes Jahr aufs Neue würde er wieder geboren werden, ein verzweifelter Versuch, die Menschen zu ermahnen. Vielleicht würden sie doch irgendwann zumindest ein bisschen verstehen. Doch um die Botschaft zu vernehmen, mussten sie zunächst einmal hinschauen. In diese Krippe schauen. In diese Kinderaugen.
So lange sie nur daran vorbeiblicken, um einen Haufen teurer aber nichtssagender Geschenke daneben zu legen, als könne man sich Liebe und Zuneigung erkaufen, so lange wird sich ihnen der Sinn von Weihnachten nicht erschließen.
So lange sie durch die Geschäfte hetzen auf der Suche nach dem vermeintlich passendsten, hippsten und ästhetischsten Geschenk, das dann beim Öffnen noch mehr Stress verursacht, weils dann doch nicht gefällt, weils nicht exakt das Richtige war, weil der Empfänger den Schenkenden sowieso nicht leiden kann und deshalb keine Gelegenheit auslässt, ihn auf die Palme zu bringen und dann auf Herausgabe des Kassenbons besteht, um das blöde Teil umtauschen zu können - ja, so lange wird ihnen die eigentliche Bedeutung des Schenkens nicht bewusst werden.
Überhaupt, haben sie es an diesen speziellen Tagen ziemlich eilig, das Beschenken möglichst schnell hinter sich zu bringen, als wäre es nicht etwas Schönes, wofür man sich Zeit nehmen sollte, sondern etwas Lästiges, das man so weit wie möglich von sich schieben möchte. So kommt es, dass an dem symbolischen Tag, wenn die drei Weisen aus dem Morgenland dem Christkind Gold, Weihrauch und Myrrhe (ein krasser Gegensatz zu den heutigen Gaben Geld und Schmuck, schweres orientalisches Parfum und Edelpralinen) bringen, im unorthodoxen christlichen Menschenreich schon nichts mehr übrig zum Schenken ist. Sie haben ja schon alles, aber von kleinen Geschenken, die nicht nur sprichwörtlich die Freundschaft erhalten und außerdem von Herzen kommen, noch nichts gehört.
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Das Christkind schweigt. Vielleicht fehlen ihm die Worte. Aber sein Schweigen ist ein freundliches. Ein wohlgesinntes. Auch ein hoffnungsfroh schimmerndes. Es feiert seine Geburt. Die anderen feiern Weihnachten.
© Karin Scherbart